11.07.2016
Der Böse Wolf liest selten Zeitschriften – er verbringt seine Zeit lieber mit interessanteren Tätigkeiten. Doch gestern hatte er viel Muße, er besuchte einen Freund, den er schon länger nicht mehr getroffen hatte, und dieser hatte auf seinem Tisch eine offen aufgeschlagene Zeitschrift liegen, mit einem etwas eigenartigen Titelbild, das ihm sofort auffiel. Das Bild zeigt einen gut gekleideten Mann mit einem kreisrunden Kopf. Kreisrund wie ... nunja, so rund wie ein Rundstempel zum Beispiel.
Mit runden, also „offiziellen“ Stempeln kennt man sich bei ROSCH & Co. gut aus. Dort liebt man solche Stempel!
Manchmal bezahlt man dort sogar dafür, dass jemand mit hohem Amt sein Siegel auf ein Papier drückt. Hübsch sind solche Siegel, die nur der Adel verwenden darf, anzusehen ... Beim gewöhnlichen Volk lässt sich damit leicht Eindruck schinden. Je höher der Rang, desto edler die Krone, desto feiner das Tuch. In modernen Zeiten wie diesen tragen die Kaiser keinen Hermelinpelz mehr, heute tragen sie Krawatte. Aber auch dieses gute Stück kann etwas sehr Besonderes sein. Ende Juni hat der Kaiser eine neue Krawatte aus echter chinesischer Seide geschenkt bekommen! Ein Markenprodukt! Auf der Seite ist mit Goldfäden gut sichtbar „DEKRA“ eingestickt!
Er hat die neue Krawatte von einem seiner Statthalter geschenkt bekommen, vom Herrn Baron höchstselbst! Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft ... Und wenn der Kaiser ausnahmsweise nicht selber ins Rampenlicht treten will (es gibt immer mehr Leute, die behaupten, er sei völlig nackt), dann schickt er auch schon mal seinen Baron nach vor.
Der Böse Wolf ist jetzt neugierig geworden. Er nimmt die dicke Zeitschrift in die Hand (sie besteht aus 65 Seiten!) und beginnt zu lesen.
Es ist ein Bericht über Messungen. Ihr erinnert euch? Vor etwas mehr als einem Jahr war eine ganze Horde Pilger am Fuße des Kaiserthrons zu Spich und hat gemessen was das Zeug hält. Aber diese Messungen beeindruckten das gewöhnliche Volk kaum ...
Jetzt wurde es Zeit für neue Messungen. Und zwar solche mit einem runden Siegel! Der Kaiser hatte sich im letzten Jahr ein wenig lächerlich gemacht, diesmal wollte er auf Nummer sicher gehen und sich selber weitgehend aus der Schusslinie nehmen. Möglichst objektiv sollte alles aussehen. Der Herr Baron war bisher im Zusammenhang mit dem Spichschen Wunderwerk noch nicht so aufgefallen, also sollte er diese heikle Aufgabe übernehmen.
Es wurde ein hoher Würdenträger, der eine ganze Halle nahe einem Saale sein Zuhause nannte, ins Land geholt, um an dem neuen Kleidungsstück für den Kaiser zu weben. Schließlich sollte es die perfekte Krawatte werden – echte Seide, mit Goldfäden bestickt, versehen mit einem Herkunftszertifikat mit rundem Stempel! Vom hohen Norden, weit im Osten, kam er angereist. In der näheren Umgebung des Kaiserhofs zu Spich gab es offensichtlich keine geeigneten Würdenträger, die würdig genug gewesen wären, ihres Amtes zu walten.
Und so wurde wieder einmal gemessen, gemessen, gemessen und protokolliert, protokolliert, protokolliert ... 65 stolze Seiten hat der Würdenträger zusammengetragen. Ein richtig dickes Messbuch!
Der Messdiener ... pardon, der Herr Baron (er trägt diesen Titel wie einen Namen), achtete darauf, dass nicht jedermann Einsicht erhält in dieses Buch. Denn die langen Zahlenkolonnen und umfangreichen Diagramme waren nur für die Gläubigen bestimmt. Für jene Gläubigen, die bereit waren, Geld in eine Technologie zu investieren, die selbst der in einer Halle wohnende Würdenträger nicht verstehen konnte. Also machte man es dem Würdenträger so leicht wie möglich. Man bereitete ihm in bewährter Manier alles so vor, dass er seine Messgeräte nur noch anklemmen musste.
„Der Anschluss der Stromwandler sowie die Spannungsabgriffe zur Messung erfolgten über kundenseitig vorinstallierte Anschlusskästen.“ So kann man es auf Seite 2 des Messbuchs lesen. Der Herr Baron und der Kaiser wollten dem armen Würdenträger das Suchen nach dem Anschlusskabel ersparen.
Und damit auch wirklich keine größer schwankenden Kurven bei den Messungen herauskamen (diese zu interpretieren wäre viel zu schwierig gewesen für das gewöhnliche Volk), beschränkte man sich auf eine gewöhnliche ohmsche Last, ganz ohne irgendwelche Lastwechsel, vollkommen sinnlos und praxisfremd. Fünfeinhalb Stunden lang heizte man so die Halle zu Spich auf. Kein einziges Mal schaltete man etwas zu oder weg – solche Schwankungen wären doch ohnehin nur für ein paar altmodische Ingenieure interessant gewesen, echte Gläubige wollte man mit dieser Komplexität nicht belasten.
Dem Würdenträger war nicht ganz wohl in seiner Haut (wer fühlt sich dort am Kaiserhof zu Spich schon wohl?). Man munkelt, er hätte wohl ein wenig Streit gehabt mit dem Baron, denn ans Ende des ersten Kapitels (auf Seite 3), bevor er sein Siegel daruntersetzte, schrieb er noch diesen fettgedruckten Satz: „Weitergehende Bewertungen zur Energiequalität und Einhaltung von Grenzwerten erfolgten vereinbarungsgemäß nicht.“
Und ein wenig vergesslich ist er auch schon, der Würdenträger, sonst hätte er nicht vergessen, diesen Satz auf Seite 2 zu löschen: „In einer separaten Messung wurde die Messaufzeichnung bei Start und Abschaltung des Systems vorgenommen.“ Diese Messungen sind wohl im „Rundordner“ gelandet – in dem Buch sind sie jedenfalls nicht enthalten. Die Messreihen beginnen schließlich, wie man dem Messbuch leicht entnehmen kann, nicht wie üblich bei 0 oder 1 – nein, in Spich beginnt man erst bei 2 zu zählen. Vermutlich war der Würdenträger so perplex, als der Generator schlagartig von 0 auf 100 hochfuhr, dass er vergaß, den Aufzeichnungsknopf zu drücken. Nach einer längeren Schrecksekunde besann er sich dann doch eines Besseren und zeichnete stundenlang brav die immer gleich dahinfließenden Ströme aus dem Troisdorfer Kraftwerk auf. Und als er das Vorwort zum Buch fertiggeschrieben hatte, druckte er es aus, versah es mit seiner Unterschrift und dem heißbegehrten Siegel.
Doch am Kaiserhof war man noch nicht restlos zufrieden mit seiner Arbeit. Ein wichtiger Absatz fehlte in dem Dokument. Also setzte sich der Würdenträger ein letztes Mal an seinen Schreibtisch und fügte diesen Absatz auf Seite 3 ein, der in der ersten Version gefehlt hatte:
„Die vom System erzeugte Energie, welche von Lastwiderstand in Wärmeenergie umgesetzt wurde, betrug innerhalb des Aufzeichnungszeitraumes von 5,5 Std. ca. 300 kWh. Dies entspricht einer kontinuierlichen nutzbaren Leistungsabgabe von 54,5 kW.“
Ein wichtiger Satz! Der Würdenträger muss wohl gehörig ins Schwitzen gekommen sein, bei so viel abgestrahlter Wärmeenergie ...
Vor lauter Aufregung hat er wohl auch vergessen, eine ganz einfache Probe mit seinen Messgeräten zu machen. Hätte er bei der nächstgelegenen Steckdose ebenfalls die Netzfrequenz gemessen, so wäre er wohl aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen ... er hätte sich stundenlang die Läuse aus seinem Hinterkopf gekratzt und sich gefragt, warum die Spannung an der Steckdose immer haargenau die gleiche Frequenz anzeigt wie seine Messung am Kraftwerksstrom ... selbst bei technischen Laien wie Staatsanwälten wäre hier endgültig der Groschen gefallen ...
Viel Papier sollte produziert werden. Viele Zahlen und viele Kurven! Und vor allem dieser erste Satz auf Seite 3, gleich unter dem Titel „Prüfergebnis“: „Das System wurde über den gesamten Messzeitraum völlig autark, ohne erkennbare Zuführung von elektrischer Fremdenergie betrieben.“
Für den Würdenträger war nichts erkennbar. Er konnte das tonnenschwere Wasserkarussell nicht hochheben ... Er tat das, wofür er bezahlt wurde und lieferte. Mit rundem Stempel.
Der Böse Wolf schaut versonnen durchs offene Fenster hinaus. So viele Kurven! So eine wunderschöne Krawatte!
Beginnst du langsam zu verstehen, lieber Leser?
Ein wenig erinnert den Bösen Wolf diese Geschichte an VW. Da wurden auch jahrelang Abgaswerte gemessen und gemessen und gemessen. Aber WAS hier eigentlich gemessen wurde ... bei VW wurden dem Kaiser zu Wolfsburg mittlerweile schon in paar Klamotten heruntergerissen. In den heiligen Hallen zu Spich könnte der Kaiser bald splitternackt dastehen ...
Der Herr Baron und der Kaiser sind sehr bescheiden. Diese tollen Messergebnisse wurden nämlich bisher nirgendwo veröffentlicht! Weder bei ROSCH noch beim Auftraggeber der Messung, DIE ERSTE KPP GmbH, findet man etwas darüber. Letztere Website besteht ohnehin nur aus 3 Seiten: Einer Startseite mit ein paar bunten Bildern, einem Kontaktformular und einem langatmigen Disclaimer auf der Impressum-Seite. Man bleibt besser im Verborgenen. Der Herr Baron scheint nirgendwo auf, im Impressum ist nur die Baronin zu finden ... wahrhaft vornehm, diese Zurückhaltung!
Auch der Unternehmenszweck ist auf der Website kaum auszumachen. Da bietet das Messbuch schon bessere Einblicke:
Die Erste KPP GmbH
Investor Relations
Corporate Development
ist dort zu lesen. „Geldeinsammeln“ als Unternehmenszweck ...
Der bisher (noch) einzige öffentliche Hinweis auf das Messbuch ist bei Zilverstroom zu finden.
Das klingt alles ein wenig wie aus einem Märchen ... Für jene Leser, die der Märchensprache nicht ganz so mächtig sind, eine kurze, prägnante Übersetzung in die harte Alltagssprache:
Diese vollkommen nichtssagende „Messung“ wurde einzig zu dem Zweck in Auftrag gegeben, potenzielle Investoren mit dem Stempel der DEKRA und einem Haufen sinnloser Zahlenreihen zu beeindrucken.
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